|
|
Laudatio
Dr. Brigitte Seebacher 
Der heutigen Feierstunde verdanke ich mindestens eine neue
Einsicht. Die Aufgabe einer Laudatorin ist nicht nur schön, ehrenvoll
ja sowieso, sondern auch schwer. Warum?
Den zu Ehrenden auf gleicher Augenhöhe
zu begegnen, will sagen: die Kenntnis seines Schrifttums, hielt ich für
selbstverständlich.
Es müsse doch ein Leichtes ein, sich wenigstens einmal hindurch
zu lesen. Verehrter Friedrich Pohlmann, sehen Sie mir’s nach: Ich
habe kapituliert. Wegen des Umfangs. Und wegen der soziologischen und
philosophischen Art, in der Sie Ihren Stoff bearbeitet und die für
eine schlichte Historikerin so ohne weiteres nicht zu greifen ist.
In Ihrem Beitrag für die Festschrift, die zu Ehren Ernst Noltes
in diesem Jahr erschienen ist, bekennen Sie sich in seltenem Freimut
zu Ihrem großen Vorbild. Sie nennen mehrere Elemente des Nolteschen
Denkstils. Eines scheint für Sie besonders wichtig zu sein. Es ist
Noltes „Bemühung um ein ‚Verstehen’ des Gehalts
und der freundlich-feindlichen Interaktionen und wechselseitigen Durchdringungen
aller wichtigen geistig-ideologischen Strömungen einer Epoche und
ihrer Repräsentanten“.
Historiker tun sich schwer, wenn ihr Feld kategorial abgesteckt und mit
einem Netz begrifflicher Abstraktionen überzogen wird. Die Historiker?
Von denen sollte heute, da sich das historische Bewusstsein unter dem
Druck den neuen Kommunikationstechniken verliert, noch weniger die Rede
sein als vor zehn oder zwanzig Jahren. Aber hier, in diesem Kreis und
aus diesem Anlass, dürfen wir uns einbilden, dass die radikale Vergegenwärtigung
allen Seins noch nicht Platz gegriffen hat, und daran glauben, dass die
Geschichte noch mehr bietet als Anlässe öffentlicher Erregungszustände.
Auch damals schon, in der Zeit vor dem Internet, das bekanntlich kein
Gedächtnis hat, näherten sich die Historiker ihrem Gegenstand
mindestens auf zweifache Weise. Sie taten, als ob die Geschichte verlaufen
musste, wie sie verlaufen ist. Oder sie gingen davon aus, dass es immer
auch zweite und dritte Möglichkeiten gab und zumal in Deutschland
nichts kommen musste, wie es gekommen ist.
Ich habe gelernt, bin auch gelegentlich Zeugin geworden, wie durch Zufälliges
oder jedenfalls Unvorhergesehenes geschichtsmächtige Wirkungen ausgelöst
und große Bewegungen von Widersprüchen geprägt worden
sind. Im Namen des Sozialismus hat Stalin beispiellose Verbrechen begangen.
Auf den Sozialismus aber hat sich Otto Wels ausdrücklich berufen,
als er am 23. März 1933, mit Zyankali in der Rocktasche, Nein zum
Ermächtigungsgesetz sagte. Kein bürgerlicher Anti-Sozialist
hat sich dazu durchringen mögen.
Es bleibt ja auch nicht alles gut, was gut angefangen hat, und umgekehrt.
Ist wirklich ein und dasselbe System, das Stalin und Gorbatschow hervorgebracht
hat? Und hätte in einem frühren Jahr als 1976 Wolf Biermann
nicht Schlimmeres zustoßen können, als in den deutschen Westen
abgeschoben zu werden?
Während der Lektüre mancher Pohlmannscher Schriften, genauer
gesagt: durch sie angeregt, wird man sich der eigenen Prägung neu
bewusst. Man liest und liest und fühlt, wie die Gedanken fliegen.
Ist das nicht das größte Lob, das auszusprechen ist?
Eine dieser Fragen, die Sie, Herr Pohlmann, provoziert haben, kann einen
gar nicht mehr loslassen. Es ist eine Frage, die Ihre drei Fächer
Soziologie, Geschichte, Philosophie, umspannt: Wenn Hitler bei Zeiten
oder auch zu guter Letzt aufgehalten worden wäre, hätte uns
die Totalitarismustheorie dann je erleuchten können?
Sie haben einen Doktorhut in Soziologie erworben, nicht in Ihrer Heimstadt
Bielefeld, sondern in Freiburg, wo Sie auch habilitiert worden sind.
Die erste Arbeit ist Georg Simmel gewidmet und 1987 erschienen. Der Titel: „Individualität,
Geld und Rationalität“. Vielleicht haben Sie dabei gespürt,
dass Geld viel weniger rational zu handhaben ist als gedacht und jedenfalls
den spekulativen Neigungen, die Sie unzweifelhaft haben, breiten Raum
lässt. Im selben Jahr 87 stellten Sie die „Strukturtheorie
des Kapitalismus bei Karl Marx“ auf und schlugen damit den Weg
ein, der hier und heute eine besonders schöne Markierung erhält.
Mit Karl Marx und den „Grundmotiven und totalitären Mustern“ seiner
Theorie haben Sie Ihr Thema gefunden – den Kommunismus und mit
ihm den Faschismus. „Ideologie, Herrschaftsorganisation und Terror
im Nationalsozialismus“, so ein Titel aus dem Jahr 1995, wollen
Sie nicht ergründen, ohne den „diktatursoziologischen Vergleich“ zu
ziehen und ohne den „historisch-genetischen Zusammenhang“ zwischen
Kommunismus und Faschismus herzustellen. Sie beharren darauf, dass „Marxismus – Leninismus – Kommunismus – Faschismus“,
so ein weiterer Titel aus dem Jahr 95, nacheinander auf eine Kette gezogen
werden können. Ich gestehe, dass Ihre Beweisführung in sich
schlüssig ist und die Leserin gerade deshalb in den Bann schlägt.
Aber der Preis ist hoch. Kann Geschichte je schlüssig sein? Widerspruchsfrei?
Nein, kann sie nicht. Aber die Versuchung ist zu schön, als dass
es nicht immer wieder versucht werden müsste. Auch auf die Gefahr
hin, dass über einen Leisten geschlagen wird, was sich darüber
nicht schlagen lässt.
Sie lassen, in der Reihe „Marxismus – Leninismus – Kommunismus – Faschismus“,
die DDR nicht aus und nennen deren „Außenfassade“,
der Logik Ihres Ansatzes folgend, „eine weitgehende Kopie der Sicherungsanlagen
nationalsozialistischer Konzentrationslager“. Doch in den KZs überlebten
die Gefangenen, Kommunisten, Sozialdemokraten, auch solche nicht deutscher
Herkunft wie Léon Blum, der sich selbst als Kultursozialist verstand,
nur mit Glück oder übermäßiger Willenskraft. Man
denke an Kurt Schumacher und all die anderen ausgemergelten Gestalten,
die 1945 befreit wurden. Was haben sie mit den Menschen gemein, die hinter
der „Außenfassade“ der DDR zum Vorschein kamen? Ihre
Sicht schließt zwingend die Verdammnis der Entspannungspolitik
ein, die Sie den 86ern zuschreiben und über deren Prinzipien Sie
ein kühnes Urteil wagen. Helmut Kohl würde heftig widersprechen.
Hier eröffnen Sie jedenfalls ein weites Feld, und man kann nur wünschen,
dass es beackert wird.
In Ihrem Buch „Deutschland im Zeitalter des Totalitarismus“,
erschienen 2001, ziehen Sie die – vorläufige – Summe
Ihres Denkens und sprechen zugleich die Anwendung der Theorie auf die
deutsche Geschichte. Zwischen dem Anfang, 1918, und dem Ende, 1989, spüren
Sie den bekannten „Identitäten“ nach. Immer klug, oft
zum Widerspruch reizend, nie langweilig.
Der Rückblick auf das nun abgeschlossene Zeitalter ist zugleich
der Ausblick. Welche Kräfte, die das Ende herbeigeführt haben,
wirken weiter? Und wohin werden sie führen? Verehrter Herr Pohlmann,
Sie werden nicht ausgezeichnet, damit Sie sich nun zur Ruhe setzen, sondern
damit Sie Ihre Fäden weiter spinnen und Antworten suchen – auf
die alten und die neuen Fragen. 
|
|
|